Eine typische Zechensiedlung in Gelsenkirchen-Buer prägte in den 1970er Jahren Leonardos Kindheit. Dicht an dicht standen die von der industriellen Vergangenheit gezeichneten Häuser, deren Fassaden von einer langen Ära des Bergbaus zeugten. Hinter jedem Haus erstreckte sich ein grüner Garten, ein kleines Paradies inmitten der grauen Zechensiedlung. Liebevoll von den Bewohnern gepflegt, spiegelten die Gärten mit ihren bunten Blumen, Gemüsebeeten und Obstbäumen den Wunsch nach Selbstversorgung wider.
Die Geräuschkulisse war geprägt vom Summen der Bienen und dem Geschrei der spielenden Kinder, während im Hintergrund die Geräusche der Schachtanlage Hugo zu hören waren. Die Menschen in dieser Bergarbeitersiedlung waren eng miteinander verbunden, ihre multikulturelle Gemeinschaft wurde durch die harte Arbeit und die ständige Präsenz der Industrie gestärkt.
Während der Sommerferien dienten die Gärten als Rückzugsorte, in denen die Bewohner die Lasten des Alltags vergessen konnten. Kinder spielten zwischen den Blumen, während die Erwachsenen auf den Gartenbänken saßen und Neuigkeiten austauschten. Der raue Charme der Hüchtebrockstraße war in diesen Momenten durchdrungen von Lebensfreude und Zusammenhalt. Ali, Sandra, Ivano, Dimitri oder Pedro kannten keine kulturellen Unterschiede. Sie spielten miteinander, stritten und vertrugen sich wieder, ohne dass sich die Eltern einmischten.
In den Sommerferien malte Leonardo, gerade sieben Jahre alt geworden, ein Känguru. Es sah aus wie eine stehende Ratte. Er fand das gar nicht so schlecht und war überzeugt, je öfter er es versuchte, desto besser würde es werden. Das fünfte Känguru sah aus wie eine Mischung aus Känguru und stehender Ratte, diesmal sogar lächelnd.
Nach einigen weiteren Versuchen war Leonardo überzeugt, das perfekte Känguru gemalt zu haben. Voller Stolz lief er in den Garten und traf “Oma”. Sie war nicht seine Großmutter, aber die Kinder nannten sie so. Sie war wahrscheinlich noch keine 40 Jahre alt, aber das war für die Kinder damals schon sehr alt. Stolz zeigte er ihr sein Meisterwerk. Oma betrachtete das Kängurubild und sagte lächelnd: "Oh, das ist aber ein schönes Bärenbild!" Dann streichelte sie Leonardos Haare und ließ ihn mit seinem Kunstwerk zurück.
Leonardo überlebte diese Erfahrung unbeschadet. Ob er ein großer Künstler wurde, ist nicht bekannt. Der “Da Vinci” war es nicht, er lebte bekanntlich einige Jahre früher, um Spekulationen und Missverständnisse auszuräumen. Was bleibt, ist nach über 40 Jahren der stille Wunsch, dass einige kulturelle Gegebenheiten von damals, die die Menschen positiv geprägt haben, wieder ein "comeback" erleben. Nicht alles Vergangene war schlecht.
In einer Zeit, in der die heutige Kultur oft dazu neigt, alles in Watte zu packen, um sich vor möglichen seelischen Schäden zu schützen, zeigt die Geschichte eines Kindes, das stolz das Bild eines nicht perfekten Kängurus präsentiert, eine wichtige Lektion. Der lockere Umgang von "Oma" mit dem Bild zeigt, dass nicht jeder künstlerische Ausdruck mit klinischer Präzision erfolgen muss.
Vielleicht sollten wir uns alle daran erinnern, dass ein frecher Pinselstrich oder eine kreative Mischung aus Känguru und Ratte kein Grund zur Sorge sind. Im Gegenteil, sie können der Beginn einer Reise sein, die das individuelle Wachstum und die Freude an der Kreativität fördert. In einer Welt, die oft nach Perfektion strebt, kann uns ein kleines, "unvollkommenes" Känguru daran erinnern, dass es manchmal gerade die Eigenheiten sind, die uns zum Lächeln bringen. Es ist ein Wink mit dem Zaunpfahl, nicht alles zu ernst zu nehmen und Raum für kreative Freiheit zu lassen.
Wir, die zwischen 1960 und 1970 Geborenen, sind Helden ;-)
In Erinnerung an die Kindheit, Ivano Fargnoli ( 2024 )