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Wissen Sie, heute ist es ganz besonders heiß, selbst im Schatten ist es kaum noch zu ertragen. Der Schweiß rinnt mir von der Stirn, bahnt sich seinen Weg über meine faltige Haut, schlängelt sich durch bis zum Hals, bis er schließlich und endgültig von meinem Hemd aufgesaugt wird. Hin und wieder verirrt sich ein salziger Tropfenfluss direkt in die Augen, was dazu führt, dass ich diese reibe und sie dann erröten und man glauben könnte, ich hätte geweint.

 

Die Hitze tötet jeden Lebensnerv, kein Vogelgesang ist zu vernehmen, kein Hundegebell vermischt sich mit dem Lärm sonst laut spielender und kreischender Kinder. Die Straßen sind leergefegt, bis auf einige Touristen, die in der sengenden Glut mit Kameras bewaffnet durch den Ort schlendern, sich in ihren kurzen Hosen den Schweiß von der Stirn wischend umschauen. Dem einen oder anderen kann man die Einsicht ansehen, dass es ein Fehler war, zu dieser Zeit auf Fotosafari zu gehen, und verschwindet wieder im Schatten der umliegenden Häuser. Kein Einheimischer würde jemals auch nur annähernd auf den Gedanken kommen, sich um diese Zeit der Glut der Sonne zu stellen, zumindest nicht freiwillig. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, jemals einen so heißen Sommer erlebt zu haben, obwohl damals auf den Tabakplantagen ... ach, es ist schon so lange her.

 

Ich schaue auf das Glas, das neben der aufgeschlagenen Havanna – Post liegt. Allein die Tatsache, dass meine Zunge am Gaumen klebt und meine Kehle vor Trockenheit schmerzt, verhindert, dass ich erneut zur Zeitung greife, das Bild betrachte, auf die Zeilen starre, die dort geschrieben stehen, und mich die Vergangenheit wieder einholt. Das war schon mein fünftes Glas Eiswasser heute, und ich fühle mich so trocken und ausgedörrt wie nach einem Fußmarsch durch die Wüste.  Wenn das Rumoren in meinem Körper nicht wäre, würde ich mir selbst nicht mehr so sicher sein, ob ich lebe oder bereits das irdische Dasein verlassen habe. Eiswasser schlägt mir in den letzten Jahren immer besonders auf den Magen, doch was soll ich tun? Sicher, ich könnte auch etwas anderes trinken, zum Beispiel ein schönes kaltes Bier drüben bei Pedro. Aber glauben Sie mir, aus Erfahrung weiß ich, dass Bier in der Mittagssonne nur den Kopf und die Sinne verwirrt und man Dinge anstellt, die man später nur bereut. Aus diesem Grund halte ich es schon seit Jahren so, mein Bier erst in den späten Abendstunden zu genießen. Ich sitze dann bei Pedro und denke dabei über den vergangenen Tag nach, genieße die heißen Salsa Rhythmen und schaue den schönen braungebrannten und sehr freizügig gekleideten Senoritas hinterher. Hin und wieder schauen mein alter Freund und ich uns an, lächeln und ein Augenzwinkern zeigt uns, dass wir zwar körperlich schon alt sind, aber noch immer Sinn und Augen für die schönen Dinge des Lebens haben.

 

Ich kenne Pedro Alvarez schon sehr lange. Wir sind beide in Altagracia unter ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Unser Zuhause war damals eine mit Palmstroh gedeckt Holzhütte, die neben der stark befahrenen Landstraße nach Altagracia auf einem Boden aus festgetretenem Lehm stand. Schon als Kinder halfen wir unseren Vätern auf den Tabakplantagen, und später arbeiteten wir zusammen in der Zigarrenfabrik. Die Zigarrenproduktion ist ein Jahrhunderte altes, kunstvolles Handwerk, dessen Beherrschung viele Jahre Erfahrung erfordert und neben dem Anbau von Zuckerrohr und Obst eines der wichtigsten Einnahmequellen Kubas ist. Männer und Frauen jeden Alters sitzen an Holztischen, die wie altmodische Schulpulte aussehen, rollen und schneiden die Tabakblätter, die vorher befeuchtet, gerichtet, anschließend wochenlang getrocknet und nach Farbe und Stärke sortiert wurden. Ich habe jeden Arbeitsschritt viele Jahre lang mit eigenen Händen ausgeführt, bevor ich eines Tages der Zigarrenfabrik den Rücken kehrte und mein Glück in Havanna suchte. Dreihundert Kilometer von Zuhause entfernt, für einen jungen Mann von siebzehn Jahren ein verlockendes Abenteuer, für die Eltern ein Bruch mit der Tradition. Ich wollte mein Leben nicht so wie sie verleben, ich wollte nicht in den düsteren Hallen der Zigarrenfabrik mein Dasein fristen und nur darauf warten alt zu werden, um dann eines Tages zu sterben. Ich wollte das Leben leben und war bereit, jeden Preis dafür zu zahlen.

 

In einer so großen Stadt wie Havanna, sicherlich gibt es größere Städte, aber wenn man nur Altagracia kennt, dann ist Havanna eine große Stadt, gibt es nichts geschenkt. Das war das Erste, was ich zu spüren bekam. Hast du Hunger, dann arbeite, um dir etwas zum Essen zu kaufen. Hast du Durst, dann ist Arbeiten auch hier ein geeignetes Mittel. Ich verdiente damals mein tägliches Brot mal als Töpfer und mal als Barbier, oder half beim Anbau von Obst, Gemüse oder Getreide. Die Tätigkeiten waren hart, aber abwechslungsreich und es kreuzten immer wieder neue und interessante Menschen meinen Weg. So auch Xavier Selenas, ein Mann Mitte fünfzig, dessen Gestalt eher unscheinbar und zurückhaltend wirkte, der es aber dennoch verstand, sich mit seinen Blicken Respekt zu verschaffen.

 

Eines Tages trafen wir uns zufällig auf dem Marktplatz. Er beobachtete mich, als ich verzweifelt versuchte, eine entlaufene Henne einzufangen, die ich nach kurzer Zeit erfolgreich in eine Kiste sperrte. Er sprach mich an und sagte mir, dass ich sehr kräftig, schnell und beweglich sei, und wollte von mir wissen, ob ich nicht Lust hätte, nach meiner Arbeit abends ein wenig zu trainieren, um diese Fähigkeiten weiter auszubauen. Wissen Sie, an das Boxen habe ich bis zu diesem Tag nie gedacht.  Aber als ich mit meinen siebzehn Jahren das erste Mal im Boxring stand, die Handschuhe geschnürt bekam, habe ich gespürt, dass es mein Leben verändern wird. Von diesem denkwürdigen Moment an wurde der Faustkampf und das damit verbundene Training zu meinem Lebensinhalt, der neben meiner Arbeit meinen ganzen Tagesablauf bestimmen sollte.

 

Das Training wurde von Monat zu Monat härter, und Xaviers Anforderungen wuchsen stetig. Seine ruhige Art behielt er bei, nur nahm er immer weniger Rücksicht auf mich. Die Zeit des Heranführens war schnell vorbei, und er scheuchte mich durch den Ring, wie ein Jäger seine Beute. Oft war ich am Abend so erschöpft, dass ich kraftlos ins Bett fiel und bis zum nächsten Morgen durchschlief.

 

Nach etwas über einem Jahr kam der Tag, vor dem ich mich gefürchtet, aber dennoch entgegengefiebert hatte. Ich stand zum ersten Mal unter echten Wettkampfbedingungen einem anderen Boxer gegenüber. Adrenalin flutete wie Strom durch meine Adern. Wir musterten uns, und keiner ließ mit seinen Blicken vom anderen ab. Jede Bewegung, jedes Muskelzucken wurde wahrgenommen. Sowohl mein Gegenüber, als auch ich versuchten kühl und gelassen zu wirken, aber meine Beine zitterten und ich hatte das Gefühl, dass ich mich gleich übergeben müsste. Seine Blicke durchbohrten mich, und ich war mir sicher, dass er meine Angst spüren konnte. Meine Arme wurden schwer wie Blei und in meinem Kopf lief eine Gedankenflut zusammen, die schon fast unbeschreiblich war. Ich dachte an meine Eltern in Altagracia, dachte an die Tabakplantagen und an das, was aus mir geworden wäre, wenn ich damals mein Leben nicht in eigenen Händen genommen und Xavier kennengelernt hätte. Ich würde sicherlich nicht hier stehen und mich fragen, was ich hier soll. Ich zweifelte an dem, was ich machte, und fragte mich nach dem Sinn, im Ring zu stehen. Plötzlich stellte ich mein Handeln in Frage und starrte mein Gegenüber mit leerem Blick an. Xavier stand die ganze Zeit hinter mir und anscheinend wusste er genau, was in mir vorging.  Mit leiser, beruhigender Stimme beantwortete er meine Fragen, die ich nicht ausgesprochen hatte, die nur in meinem Kopf existierten. Er erklärte mir den Grund meines Daseins im Ring, erinnerte mich an meinen Traum, einmal für Kuba kämpfen zu dürfen und erinnerte mich an meine Stärken, die ich hatte. Es war unheimlich, aber seine Worte gaben meinem Handeln wieder einen Sinn und ich war bereit, alles für diesen Traum zu geben.

 

Es war ein erfolgreicher Tag, nicht nur für mich. Ich sah Xavier vorher noch nie so ausgelassen und mit so einem Lächeln im Gesicht. Er war es, der mich zu siegen lehrte, und er war es auch, der bei meinen ersten Niederlagen an meiner Seite stand und mir beibrachte, auch aus negativen Erfahrungen etwas Positives zu ziehen. So wurde ich mit der Zeit ein angesehener Boxer, mit dem Ruf, ein ganz Großer zu werden. Die Erfahrungen im Ring haben mich härter und stabiler gemacht.  Nach vielen weiteren Kämpfen, in denen ich mich bewähren konnte, ergab sich für mich eines Tages die Chance, um die kubanische Meisterschaft zu boxen, und damit die Möglichkeit, beim Erreichen des Titels mit der kubanischen Boxstaffel zu den Olympischen Spielen reisen zu können. Der sportliche Erfolg auf Kuba hat einen hohen Stellenwert, sowohl aus politischen Gründen als auch als Chance, den Slums und der Armut zu entkommen. Die Anforderungen, die Xavier an mich stellte, waren dementsprechend sehr groß. Die Vorbereitung war getränkt mit Schweiß, und manchmal hatte ich das Gefühl, Xavier ist ein Schmied und ich das Werkstück, dass er unter großer Hitze schmiedete und formte.

 

Eines Abends lag ich in meinem Bett und konnte nicht einschlafen. Diese Gedanken, Gefühle und Ängste von einst tauchten wieder auf, und der Abstand, in dem diese Empfindungen mich heimsuchten, wurde von Mal zu mal kleiner. Es waren dieselben Momente, wie an dem Tag meines ersten Kampfes, diese Angst vor dem, was kommen mag, vor dem, was war und wieder geschehen würde. Die Zweifel kehrten zurück, in einer Zeit, in der ich glaubte nach den Sternen greifen zu können. Ich konnte dieses Gefühl nicht beschreiben, spürte nur, dass es mich einengte, dass es wie ein Stein auf meiner Seele lastete. Schlimmer wurde es, als diese Gedanken nicht nur in der Nacht auftauchten, sondern mich auch tagsüber begleiteten. Xavier war der erste, der eine Veränderung an mir bemerkte, der sah, wie ich mich innerlich quälte und wie sich meine Fehler beim Training häuften. Jede Trainingseinheit war wie ein Schritt in die entgegengesetzte Richtung. Als ein weiterer Tag zu Ende ging, und ich schon auf dem Weg nach Hause war, stand wie aus dem Nichts Xavier vor mir und schaute mich lange schweigend an. Ich wusste, dass er meine Gedanken lesen konnte, wusste, dass er meine Gefühle und Ängste kannte, und dass ich mich in einer Sackgasse befand, aus der ich alleine nicht wieder rausfinden würde. An diesem Abend ging ich erst sehr spät zu Bett. Xavier redete lange und mit ernstem Ton und ich versuchte zu verstehen, was er mir sagte. Es waren gewaltige und bewegende, ja vielleicht sogar beschwörende Worte. Doch erst Jahre später sollte es sein, dass ich ihren Sinn verstand, viele Jahre später.

 

Sie ahnen sicherlich, wie der Kampf ausging, und Sie liegen richtig damit. Es war in der vierten Runde, als Xavier das Handtuch warf und somit meiner Qual ein Ende bereitete. Ich sehe noch heute sein Gesicht vor mir, wie er in den Ring stieg und mir vom Boden half, den ich an diesem mir lang in Erinnerung bleibenden, denkwürdigen Abend öfters besuchte als je zuvor in meinem Leben. Seine Art, wie er mich anblickte, bestätigte mir, dass nicht nur dieser Kampf vorbei ist, sondern meine gesamte sportliche Karriere als Boxer, und ich spüre noch heute die Erleichterung tief in meinem Inneren meiner Seele.

 

Nach dieser Niederlage zog ich mich von einem Tag auf den anderen gänzlich vom Boxsport zurück. Xaviers Versuche, mich wieder zurückzuholen, scheiterten, und so verloren wir uns aus den Augen. Hin und wieder las ich in der Zeitung von neuen, kräftigen Boxern, von den Champions von morgen und erkannte hin und wieder Xavier auf einem der kleinen Schwarz-Weiß-Fotos. Ich lebte viele Jahre, ohne jemals wieder einen Kampf gesehen zu haben und widmete mich den täglichen Dingen des Lebens. Bis vor ungefähr einem Jahr, vielleicht auch etwas mehr, verlief mein Leben wie ein langer ruhiger Fluss, stetig - aber ruhig.

 

Ich ging meiner Arbeit nach, traf mich hin und wieder mit Pedro und wir tranken gemeinsam unser Bier. Die Tatsache, dass ich einmal geboxt habe, verschwand mit den Jahren immer mehr. Umso überraschter war ich, als ich an diesem für mich denkwürdigen Abend am Eingang zur Trainingshalle vorbeikam und plötzlich stehen blieb. Ich weiß bis heute nicht, warum und was mich bewogen hatte inne zu halten, es war wie eine Eingebung, wie eine Stimme die zu mir sprach und ja, wenn ich so richtig darüber nachdenke, es war mir so, als ob ich Xaviers Stimme vernahm.

 

Ich weiß nicht, wie lange ich vor dem Tor stand, bevor ich den Geruch von Schweiß einatmete und in mir eine Bilderflut vergangener Tage aufkam. Ich vernahm den Klang einer Serie von harten Boxschlägen, gegen den maroden, schon arg ramponierten Sandsack, konnte das Pendeln der Maisbirne an der klirrenden, rostigen Kette hören. Auch das Geräusch, das die vielen Seile machten, wenn die Athleten ihre Kondition und ihre Beinarbeit beim Seilspringen trainierten und damit die schwüle, stickige Luft durchschnitten, klang sehr vertraut. Ich zögerte nicht lange und betrat den Vorraum der Trainingshalle, sah die vielen Pokale in den Vitrinen und die eingerahmten Zeitungsausschnitte an den Wänden. Im Verlauf der Jahre kamen doch einige dazu, aber die Alten hingen noch immer am selben Platz wie damals, als ich zum letzten Mal hier war, nur verstaubt und vergilbt. Auch das Bild Xaviers hing umrandet von einem schwarzen Rahmen an der Wand. Eine ebenfalls schwarze Schleife zierte den rechten Rahmenwinkel. Noch nicht einmal davon hatte ich etwas gehört, Traurigkeit überkam mich.

 

Als ich den Raum betrat, in dem der Ring stand, fiel mir die große Gestalt sofort auf, die in der Ringecke stand und vor sich hinstarrte. Er war an die 1,95 Meter groß, und im Vergleich zu den anderen Boxern, die nach harter Trainingsarbeit zum Duschen gingen, war er ein Riese. Sein Brustkorb und seine Arme waren mit Tätowierungen überzogen, sein halblanges, schwarzes Kraushaar hat er unter eine orangefarbene Baseballkappe gestopft. Er drehte seinen Oberkörper nach vorne, und ich konnte auch die Tätowierung auf seiner Schulter sehen. Er schaute mich aus seinem runden Gesicht an, und ich sah in seine schwarzen, furchtbar traurigen Augen.  Für einen kurzen Moment glaubte ich, in einen Spiegel zu schauen. Ich meine nicht in einen gewöhnlichen Spiegel, sondern einen, in dem man die Seele seiner eigenen Vergangenheit sehen kann. Obwohl ich ihn nicht kannte, ihn noch nie vorher gesehen hatte, wusste ich, was er denkt, fühlt - kannte seine Ängste.

 

„Bist du auch von der Presse?“ raunte er mich an. „Ihr Geier bekommt am Wochenende noch genug zu schreiben, lasst mich in Ruhe.“ Ich ging ein wenig auf ihn zu, öffnete meinen Mund, aber es folgte kein Laut. Ich hatte das Gefühl, auf mich selbst zuzugehen, verrückt, aber es war so. Nach einem kurzen Moment konnte ich wieder klar denken und sagte ihm, dass ich nur zufällig hier sei und mich die Neugierde hierher getrieben hätte und ich mit Sicherheit nichts mit der Presse zu tun habe. Misstrauisch schaute er mich von oben herab an, immer wieder wanderten seine Blicke hin und her. „Bist ein wenig zu früh dran, der Kampf findet erst in zwei Tagen statt.“ Ich wusste nicht, was er meinte, aber ich war mir sicher, ich würde der einzige Mensch in ganz Havanna sein, der nicht wusste, was in zwei Tagen los sein würde. Zögerlich, ja vielleicht sogar ein bisschen verängstigt, teilte ich meine Unwissenheit mit, und seine Reaktion überraschte mich ein wenig.

 

„Du weißt nicht, was hier in zwei Tagen los ist? Vermutlich weißt du noch nicht einmal, wer ich bin, oder?“

 

Zögernd schüttelte ich den Kopf und erfuhr, dass sein Name Enrique Gonzàles war, ein 24-jähriger Boxer, der in zwei Tagen den Kampf seines bisherigen Lebens haben würde, den Kampf um die kubanische Meisterschaft. Er erzählte mir, wie wichtig der Tag für ihn sei, und dass es die Chance seines Lebens sein könnte, sich für die kubanische Nationalmeisterschaft und somit für die Weltmeisterschaften im nächsten Jahr in Amerika zu qualifizieren. Was danach kam, weiß ich heute nicht mehr, außer, dass er noch eine Zeit lang redete, ich aber nichts von dem wahrnahm. Ich fühlte mich um Jahre in die Vergangenheit katapultiert, und das war wahrscheinlich der Grund, der mich damals dazu bewog, das zu tun, das mich noch einige Jahre verfolgen sollte, bis zum heutigen Tag.  Ohne ihn aus den Augen zu verlieren, stieg ich die alte, marode Holztreppe zum Ring hinauf, stellte mich vor ihn und starrte ihn sehr lange an. Ich konnte seinen Atem spüren, sah seine feuchte Stirn und ich dachte daran zurück, wie oft Xavier so vor mir gestanden hatte. Vorsichtig, und ohne ihn erschrecken zu wollen, legte ich meine linke Hand auf seine Schulter und sprach in einem ruhigen und fast väterlichen Ton:

 

„Enrique, dein Gegner sollte in keiner Weise deine Seele berühren und diese mit schweren Gedanken belasten. Erst die Bewertung, die du fällst, stempelt dein Gegenüber zu dem ab, was du siehst oder sehen möchtest. Der Anblick deines Gegenübers sollte wertfrei sein. Wenn du aber in ihm einen harten, schnellen und gefährlichen Widersacher siehst, dann schüchterst du dich selbst ein. Gewonnen wird im Kopf, gestolpert und verloren aber auch! Versteh` mich nicht falsch, du sollst Respekt vor dem Gegner haben, mehr nicht. Wenn du im Ring stehst, Kämpfe um den Respekt, den einem die anderen zollen, um den Respekt, den man sich selbst zugesteht und setzte all deine Mittel ein, mit denen du dir diesen Respekt verschaffst. Alle Gefühle, die nichts mit der anstehenden Herausforderung zu tun haben, musst du ignorieren.  Konzentriere dich, lass keinen Gedanken zu, der nicht zielorientiert ist. Der Blick nach vorn darf nicht durch seelischen Ballast oder negative Gedanken gestört sein. Schalte den Faktor Angst ab, so als wenn du den Schalter einer Lampe umlegst. Wenn die Stunde des Kampfes gekommen ist, und du ganz allein dort oben stehst, so betrachte den Kampf als eine Aufgabe, auf die du dich freust. Werde dir deiner eigenen Stärke bewusst und sei davon überzeugt, den Gang der Dinge durch Einsatz günstig beeinflussen zu können. Was in der Vergangenheit war, liegt weit hinter dir, lässt sich nicht verändern. Warum also Zeit damit verschwenden? Sei zu allem bereit, aktiviere deinen - Fighting spirit -, eine positive Aggression, ohne die nichts läuft.“

 

Wäre in diesem Moment eine Stecknadel in dieser Halle auf den holzigen, dunklen Boden gefallen, so hätte das zarte, melodiöse Klingen ein jeder von uns beiden wahrgenommen. Ich spürte die angespannte Stille, die mir eine Gänsehaut verursachte und meine Nackenhaare zum Sträuben brachte. Unsere Blicke ließen einander nicht los und es schien mir, dass keiner von uns es nötig hätte zu atmen ... kein Laut ... Totenstille.

 

Enrique war es, der den Bann der Ruhe durchbrach. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, seine glatte Stirn schlug Falten und sein Gesichtsausdruck glich dem eines zornigen Stieres, kurz bevor dieser seine Hörner zum Angriff senkte. „Was verstehst du denn schon vom Boxen, alter Mann?“

 

Dieser Satz durchzuckte meinen Körper und ließ tief in meinem Inneren die Hände zu Fäusten werden. „Was ich vom Boxen verstehe?” schoss es mir durch den Kopf.

 

„Geh wieder zurück auf die Straße, wo du hergekommen bist, und langweile jemanden anderen mit deinem dummen Geschwätz. Schau dich doch an, ein dickbäuchiger alter Mann versucht mir - Enrique Gonzàles - zu erzählen, worauf es beim Boxen ankommt! Du, der wahrscheinlich noch nie in seinem Leben jemals seinen Körper so hart bearbeitet und gequält hat wie ich, außer ihn zu mästen!“

 

Ich zitterte am ganzen Körper, und je mehr ich zitterte, desto größer wurde meine Wut in mir. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stieg ich die Holztreppe wieder runter und ging in die Richtung, aus der ich gekommen war. Auf dem Weg zum Ausgang vernahm ich nur im Unterbewusstsein seine Stimme, und kann mich auch an keine weiteren Einzelheiten seiner arroganten und dummen Äußerungen erinnern, bis auf: „ .... du bist es nicht einmal wert, meine Schuhe putzen zu dürfen!“

 

Ich kann nicht genau sagen, was mich damals dazu bewogen hatte, in die Trainingshalle zu gehen, dieses Kapitel meines Lebens lag doch schon so lange hinter mir und war abgeschlossen. Stattdessen riss ich wieder alte Wunden auf und durchlebte meine letzte Niederlage erneut. Dieses Erlebnis begleitete mich die letzten Monate, und ich mied jeden Zeitungsbericht und schaltete das Radio aus, wenn ich nur annähernd etwas vom Boxen hörte, bis heute.

 

Ich erkannte diesen Blick sofort wieder, meine Augen sind zwar nicht mehr die Besten, aber ich werde diese Augen in meinem Leben nie wieder vergessen. Der einzige Unterschied war, dass sie diesmal nicht furchtbar traurig waren, auch nicht ängstlich, sondern überzeugend mit einer Ausstrahlung des Erfolges. Das Gesicht war entspannt, sympathisch, ohne Falten. Nur das geschwollene, linke Auge und die etwas dick gewordene Lippe passten nicht, aber das ist nun mal der Tribut, den man im Ring zahlt. Dieser Kerl, der mich in meine Vergangenheit zurückholte, durch den ich schlaflose Nächte hatte - den ich hasste - verhalf mir, meinen Frieden zu finden, und ich verstand endlich, dass meine Niederlage im Ring, die Gespräche mit Xavier, das Erlebnis nach all den Jahren in der Trainingshalle nicht umsonst waren. Sicherlich, ich habe nie die kubanische Meisterschaft gewonnen, aber ich habe etwas geschafft, was Xavier nicht schaffte, oder am Ende vielleicht doch? Zumindest habe ich meinen Frieden gefunden und den Sinn meiner Vergangenheit erkannt. Aber lesen Sie selbst!

 

HAVANNA - POST: Enrique Gonzàles neuer Weltmeister

In der Nacht von Samstag auf Sonntag fand in Las Vegas der Kampf zwischen dem amtierenden, amerikanischen Weltmeister und Titelverteidiger Ronald Benson und dem kubanischen Meister und Herausforderer Enrique Gonzàles statt. In einem packenden Kampf, der auf zwölf Runden angesetzt war, konnte der Kubaner mit Mut, guten Reflexen und einer überragenden körperlichen Leistung überzeugen und entschied den Kampf mit einem eindeutigen 3 : 0 Punktsieg für sich.

 

HP: „Herr Gonzàles, wie fühlen sie sich als neuer Weltmeister?“

 

Gonzàles: „Danke, gut .... aber es tut mir leid ... bevor Sie weiterfragen, habe ich etwas auf dem Herzen, das mich schon lange quält, und das ich unbedingt loswerden möchte. Ich bitte Sie sehr, die folgenden Worte zu drucken, auch wenn es für Sie keinen Sinn ergibt!“

 

HP: „Selbstverständlich, nur zu!“

 

Gonzàles: „Hey alter Mann, wo immer du auch bist, danke! Es würde mir eine Ehre sein, deine Schuhe putzen zu dürfen! Verzeih mir, ich war ein Narr, ohne dich hätte ich es nie geschafft! Ich werde deine Worte in Ehren halten und sie weitergeben und dich werde ich nie vergessen.“

 

Wenn Sie nun meinen, es wäre eine Träne, die an meiner Wange hinunterläuft, so muss ich Sie enttäuschen. Wie ich bereits sagte, hier ist es heute mal wieder ganz besonders heiß, selbst im Schatten ist es kaum noch zu ertragen ...!

 

Ivano Fargnoli (März - November 2000)