Es ist ein kühler Herbsttag im Jahr 1977 in der Zechensiedlung der Zeche Hugo in Gelsenkirchen-Buer. Die kleinen Zechenhäuser stehen dicht an dicht. Die Luft ist erfüllt vom Geruch der Rauchgase aus den zahlreichen Kaminen. In der Mittagszeit mischt sich der angenehme Duft von Bratkartoffeln, Grünkohl oder Reibekuchen dazu, der aus den Küchenfenstern strömt. Im Hintergrund sind die Geräusche der Zeche und der dazugehörenden Zechenbahn deutlich zu hören.
Inmitten dieser Kulisse lebt Lukas, ein aufgeweckter Junge mit einer unstillbaren Neugier. Heute ist er ein erfolgreicher Architekt, doch die Erinnerungen an seine Kindheit sind noch immer lebendig. Oft erzählt er von diesen Tagen, als er barfuß durch die Straßen rennt und auf der Schaukel im Park immer höher hinaufschwingt, bis er glaubt, den Himmel berühren zu können. "Geh spielen, mein Schatz, hab Spaß!", ruft seine Mutter ihm oft zu, bevor sie ihn in die Freiheit des Nachmittags entlässt.
Lukas’ Tage sind gefüllt mit Abenteuern. Er klettert auf Bäume, spielt Fangen und Verstecken und baut Burgen im Sandkasten. Besonders aufregend ist es, in der Schüngelbergsiedlung die Halde zu erklimmen, von wo aus er einen weiten Blick über die Dächer der Stadt hat. In der Ferne ragen die Fördertürme der Schächte 2, 5 und 8 der Zeche Hugo in den Himmel, ein ständiges Symbol der harten Arbeit und des Lebens in der Siedlung.
Doch die Idylle ist trügerisch. Dem Bergbau geht es schon damals nicht gut, und die Arbeitslosigkeit steigt. Ab Mitte der 80er Jahre müssen immer mehr Männer ihre Familien verlassen, um in anderen Bergwerken Arbeit zu finden. Die Mütter bleiben zurück, versuchen, die Familie zu versorgen und den Haushalt zu führen. Auch Lukas’ Familie bleibt von der Krise nicht verschont. Sein Vater verliert seinen Job und findet nur schwer eine neue Stelle. Die einst so unbeschwerte Stimmung in der Siedlung wird von Sorge und Angst überschattet. Lukas spürt die Veränderung, auch wenn er sie nicht ganz versteht. Er klammert sich an die glücklichen Momente seiner Kindheit.
Jahre vergehen. Lukas wird erwachsen und verlässt die Siedlung. Er studiert, baut sich ein eigenes Leben auf und gründet eine Familie. Doch die Erinnerungen an seine Kindheit bleiben.
Eines Tages kehrt er zurück in die Siedlung, um den Ort seiner Jugend wiederzusehen. Er schlendert durch die vertrauten Straßen und erkennt die alten Häuser. Doch die Siedlung hat sich verändert. Die Zeche ist stillgelegt und die Fördertürme sind verschwunden. Geblieben ist nur der Förderturm Schacht 2, der heute als Teil der Industriekultur an die Bergbaugeschichte erinnert. Selbst die sonst grau-schwarze Halde ist begrünt.
Lukas setzt sich auf eine Parkbank und lässt die Erinnerungen Revue passieren. Er sieht sich selbst als kleines Kind, barfuß auf der Halde stehend, die Welt zu seinen Füßen. Er spürt die Wärme der Sonne auf seiner Haut und den Wind in seinen Haaren.
In diesem Moment erkennt Lukas etwas Wichtiges. Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern, aber sie hat die Kraft, unsere Gedanken zu beeinflussen. Es liegt in unserer Macht, mit der Vergangenheit zu leben. Er steht auf und geht in Richtung Halde, um den Blick noch einmal über die Stadt schweifen zu lassen. Auf dem Weg dorthin trifft er ein kleines Mädchen, das barfuß durch die Straßen rennt. Sie strahlt ihn an, und Lukas lächelt zurück.
Er klettert auf die Halde und blickt in die Ferne. Die Sonne geht gerade unter und taucht den Himmel in ein goldenes Licht, er liebt diese Streiflichter mit seinen Schattenwürfen. Lukas atmet tief ein und schließt die Augen. Er spürt, wie der Wind durch seine Haare streicht und ihm zuflüstert: "Geh spielen, mein Schatz, hab Spaß!"
Ivano Fargnoli (Juli 2024)