Es war ein ruhiger Morgen, als Lena das erste Mal über den Ozean nachdachte. Sie saß am Strand, die Füße im Sand vergraben, und beobachtete, wie die Wellen kamen und gingen. Ihr Blick wanderte hinaus, dorthin, wo das Wasser und der Himmel ineinander übergingen. Die Unendlichkeit des Horizonts flüsterte eine seltsame Frage in ihren Geist. Eine Frage, die sie nicht so leicht abschütteln konnte.
„Wie alt bist du?“ murmelte sie und sah das Wasser an, als erwartete sie eine Antwort. Die Wellen schwiegen. Doch plötzlich kam ihr die Vorstellung, dass das Wasser vielleicht doch antworten könnte, wenn sie nur lange genug hinhörte. In ihrer Vorstellung begann das Meer zu sprechen, mit einer Stimme, die tief und alt war, wie ein Echo aus einer längst vergangenen Zeit.
„Ich bin so alt wie die Erde selbst“, begann das Meer. „Vielleicht älter. Denn ich, das Wasser, bin aus dem Staub von Sternen geboren, aus den Explosionen von Welten, die vor deiner Zeit existierten. Mein Weg begann lange bevor die Erde geformt wurde, und ich werde bleiben, wenn sie vergeht.“
Lena schloss die Augen, fasziniert von dem Gedanken, dass das Wasser, das sie gerade sah, tatsächlich all diese Epochen überlebt haben könnte. Ein Tropfen in ihrer Hand könnte durch die Adern eines Dinosauriers geflossen, über den Rücken eines Mammuts geglitten oder in einer Oase mitten in der Wüste verdunstet sein.
„Bist du wirklich überall gewesen?“ fragte sie leise in ihrer Fantasie.
„Fast überall“, sagte das Wasser. „Ich war in den Tiefen der Ozeane und in den Wolken über den höchsten Bergen. Ich habe die Wurzeln der ältesten Bäume genährt und bin in Gletscher gefroren, die still durch Jahrtausende glitten. Ich habe Schlachten gesehen, Städte, die gebaut und zerstört wurden, und bin durch die Hände von Milliarden von Menschen geflossen. Und doch bin ich immer ich geblieben.“
Lena öffnete die Augen und betrachtete eine Welle, die sich vor ihr brach. Ein Tropfen sprang in die Luft und funkelte kurz im Sonnenlicht. Ein Gedanke stieg in ihr auf.
„Wenn Wasser wie ein Speicherchip wäre“, sagte sie, „dann würdest du alles wissen, was jemals passiert ist. Du wärst das Gedächtnis der Welt.“
„Vielleicht bin ich das“, flüsterte das Meer. „Ich erinnere mich an die Geburt der Kontinente und an die ersten Schritte der Menschen. Aber ich trage keine Worte in mir, Lena. Meine Erinnerungen sind nicht für euch zugänglich, es sei denn, ihr findet Wege, sie zu entschlüsseln.“
Sie dachte an Wissenschaftler, die Eisbohrkerne aus der Antarktis studieren, um vergangene Klimata zu rekonstruieren. Oder Geologen, die verstehen, wie Wasser Gestein über Millionen von Jahren formt. Vielleicht gab es wirklich Wege, das Gedächtnis des Wassers zu lesen. Aber es war nicht die Art von Erinnerung, die man in einem Buch nachlesen konnte. Es war tiefer, elementarer, ein Tanz aus Molekülen, der von Ewigkeit zu Ewigkeit andauerte.
„Aber warst du jemals ich?“ fragte Lena schließlich. „Hast du jemals gefühlt, wie es ist, ein Mensch zu sein?“
Das Meer schwieg eine Weile, als würde es nachdenken. Dann kam die Antwort, sanft und unvermeidlich wie die Wellen.
„Nein, Lena. Aber du bist ein Teil von mir. Dein Körper ist voller Wasser, das einst durch Flüsse und Wolken wanderte. Deine Tränen sind Tropfen, die ich dir geliehen habe, und eines Tages kehren sie zu mir zurück.“
Lena fühlte, wie eine Gänsehaut über ihre Arme kroch. Sie stand auf und sah auf das weite Blau vor sich. Die Wellen schienen immer noch zu sprechen, aber die Worte waren nun zu leise, um sie zu verstehen.
Sie drehte sich um, ihre Füße hinterließen Spuren im Sand. Während sie zurückging, dachte sie daran, dass ein Teil von ihr – vielleicht nur ein winziger Tropfen – eines Tages in diesen Ozean zurückkehren würde. Und dass der Ozean in ihr weiterleben würde, wie er es immer getan hatte.
Das Meer schwieg. Aber Lena wusste, dass es nie wirklich aufhörte zu sprechen.
Ivano Fargnoli, 2023