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Die Geschichte spielt Mitte der 1970er Jahre in einer Bergarbeitersiedlung in Gelsenkirchen-Buer, meiner Heimat. Wenn ich morgens aus dem Fenster meines Kinderzimmers blickte, sah ich direkt auf die gigantischen Fördergerüste der Zeche Hugo. Sie standen da wie stählerne Riesen, die nie schliefen.  Der Himmel war grau vom Staub der Zeche und den vielen Kohleöfen der Bergmannswohnungen. Das dumpfe Grollen, Zischen und Pfeifen der Zeche drang Tag und Nacht zu uns herüber. Es vibrierte spürbar in den Fensterscheiben, lag in der Luft und wurde zur Hintergrundmelodie meiner Kindheit.

 

Yüksel, Michael, Ingo, Frank, Sedat und ich waren ständig unterwegs. Wir waren immer auf der Suche nach etwas, das Spaß versprach oder Ärger einbrachte. 

 

Wir wohnten in der Hüchtebrockstraße, die sich in der Mitte in einem weiten Bogen zog. In dieser Kurve war die Straße durch eine hohe Ziegelsteinmauer von der Zechenbahn getrennt. Dahinter verliefen unzählige Gleise, auf denen die Kohlewaggons standen und darauf warteten, das schwarze Gold aus der Grube in die weite Welt zu bringen.

 

In den Sommermonaten spielten wir dort oft „An die Wand schießen“, ein Fußballspiel – sehr zum Leidwesen mancher Nachbarn. Wir waren alle entweder Klaus Fischer oder Rüdiger Abramczik, je nachdem, wer gerade den besten Schuss hatte. Der FC Schalke 04 war bei uns heilig – na ja, zumindest bei fast allen. Sedat war Dortmund-Fan, was wir spöttisch als „jugendliche Verwirrung” bezeichneten. Trotz dieses „Makels” durfte er mitspielen. In unserer Siedlung war man multikulturell: Türken, Griechen, Italiener, Spanier, Polen – da musste man auch einen Dortmunder aushalten können. In den Farben getrennt, im Leben vereint.

 

Unser Schreien und Lachen sowie das ständige „Bumm“, wenn der Ball gegen die Zechenmauer knallte, verschmolz mit der Geräuschkulisse der Zeche zu einem einzigen Lärm. Heute verstehe ich, warum die Nachbarn, die gegenüber der Mauer wohnten, schimpften und uns nicht selten den Ball abnahmen. Damals konnten wir das nicht begreifen. Für uns war das normal. Hauptsache, der Ball blieb im Spiel und niemand nahm ihn uns weg.

 

Wir schossen den Ball reihum an die Wand, wobei wir uns an verschiedene Regeln hielten. Eine dieser Regeln lautete: Ging der Schuss über die Mauer, musste der Schütze selbst über die Mauer klettern und den Ball zurückholen. Die Gleisanlage hinter der Mauer war eine verbotene Zone. Es roch nach Öl und Weichenfett, überall verliefen rostige Rohre, es gab Schotter, Schienen und Waggons. Vor allem aber gab es schwarzen Kohlenstaub, der sich auf die Kleidung legte, egal wie sehr man aufpasste.

 

Um die drei Meter hohe Mauer zu überwinden, entwickelten wir mit der Zeit unsere eigene Technik. Zunächst kletterte einer von uns am Laternenmast hoch, der glücklicherweise neben der Mauer stand. Dann hangelte er sich über den Mast auf die Mauer, über die Mauer rüber, schoss den Ball über die Mauer und kam in umgekehrter Reihenfolge zurück. Kniffliger war es auf der anderen Seite. Die Gegebenheiten änderten sich ständig. Mal stand eine riesige Kabeltrommel zur Verfügung, die am nächsten Tag plötzlich weg war. Wenn alles gut lief, hatte man genügend Zeit, um eine Alternative zu suchen. Dann ging man ein paar Meter weiter, um eine passende Möglichkeit zu finden. Doch damit fing das nächste Problem an. Wie kam man von der Mauer wieder herunter? Es stand keine Laterne da, über die man hätte hinunterrutschen können. Wir waren alle zwischen acht und zehn Jahre alt und dementsprechend noch klein. Aus dieser Perspektive war die drei Meter hohe Mauer um einiges höher. Springen? Unmöglich! Also setzten wir uns zunächst auf die Mauer. Wir drehten uns seitlich, krallten uns mit den Händen an der Mauerkante fest und hingen schließlich frei daran. Ab da entschied das Schicksal darüber, ob wir heil unten ankommen oder eine härtere Begegnung mit dem Asphalt haben würden.

 

Je öfter wir dort drüben waren, desto mutiger wurden wir. Erst war man allein, dann mit mehreren Jungs und schließlich mit allen. Wir schlichen über alte Schienen und hielten dabei immer Ausschau nach Arbeitern, die uns möglicherweise verfolgten. Es war unsere geheime Welt, ein Abenteuer im Schatten der Zeche. Bis zu diesem Nachmittag.

 

Wir standen alle auf dem Gleis und erkundeten das Gelände, als wir Schritte hinter uns hörten. Zwei Arbeiter kamen mit schnellen Schritten und ernster Miene auf uns zu. Plötzlich war das Abenteuer zu einem Drama geworden und pure Panik brach aus. „Los, los!“, schrie Michael und riss mich am Arm. Wir rannten zur Mauer. Yüksel und Frank waren die Ersten, die auf die Mauer kletterten und über den Laternenmast in Sicherheit rutschten.

 

Michael, Ingo, Sedat und ich schafften es nicht mehr. Wir rannten, unser Herz hämmerte. Sedat stolperte über eine lose Schwelle, fiel hin und schlug sich das Knie auf. Es floss Blut, es gab Schmutz und Schmerz, doch aufgeben war keine Option. Ingo half ihm hoch, während Michael und ich die Fluchtrichtung vorgaben. Niemand blieb zurück. Was die Kumpel unter Tage taten, lebten wir schon als Kinder.

 

Der Boden im Gleisbereich war uneben und wir stolperten mehr, als das wir liefen. Ingo schleppte Sedat, der kaum noch mitkam und vor Angst und Schmerz das Gesicht verzog. Wir liefen immer weiter in Richtung Zugbrücke, dem Übergang von der Steinmetzstraße – der Nachbarstraße der Hüchtebrockstraße – zur Schüngelbergsiedlung, dem „Feindesland“. Ein ungeschriebenes Gesetz besagte, dass niemand aus der Schüngelbergsiedlung ungestraft durch unsere Siedlung gehen durfte und umgekehrt. Wir waren also ganz nah dran, in noch ernstere Schwierigkeiten zu geraten, als wir sie jetzt schon hatten.

 

Etwa 150 Meter entfernt sahen wir die Zugbrücke vor uns. 150 Meter Steine, Gleise, rostige Schienen und unebene Schwellen. Dazwischen befanden sich Weichenfett, Pfützen, die mit Regenwasser und Ölrückständen gefüllt waren. Jeder Schritt war ein Drahtseilakt. Sedat, unser Pechvogel, stolperte erneut, konnte den Sturz aber gekonnt abfangen.

 

Auf Höhe der Brücke entdeckten wir dann ein Loch im Maschendrahtzaun, welch glücklicher Zufall. Es war ein schmaler, kaum sichtbarer Spalt aus vermoostem, verbogenem Drahtgeflecht. Ingo zeigte darauf und sagte: „Da, da geht's.“ Ich war der Letzte in unserer kleinen Gruppe, zwängte mich durch das enge Loch hindurch und spürte, wie mir der Draht in die Haut schnitt. Mein T-Shirt blieb im Drahtgeflecht hängen, ich zog kurz daran und spürte, wie mein rechter Unterarm brannte. Aber dann war auch ich durch.

 

Erschöpft sackten wir auf den Bürgersteig der Steinmetzstraße, und damit glücklicherweise auf der „richtigen“ Seite. Hinter uns lagen die Gleise und der Schatten der Zeche. Aus der Ferne hörten wir noch Stimmen und Schritte. Vor uns lag die Freiheit – zumindest fühlte es sich so an. Unsere Kleidung war voller Kohlenstaub und Dreck, aber wir hatten es geschafft. Ich sah Sedat mit seinem aufgeschlagenen Knie. Er konnte wieder lachen. Ingo lachte leise, oder war es ein leises In-sich-hinein-Weinen? „Verdammt nochmal, nie wieder Ball über die Mauer“, murmelte Michael. Wir alle wussten, dass wir es sofort wieder tun würden, vielleicht nicht heute, aber bald.

 

Wir liefen in Richtung Düppelstraße, über die es wieder in die Hüchtebrockstraße ging. Die Sonne stand bereits tief und tauchte die Ziegelwände der alten Zechenhäuser in ein rötliches Licht. Die Angst wich langsam und machte einem aufgedrehten Gefühl Platz, etwas Verbotenes überlebt zu haben. In der Höhe der Trinkhalle Poschke sahen wir plötzlich zwei Gestalten, die an der Ecke lehnten und grinsten, Yüksel und Frank.

 

„Na, habt ihr euch verlaufen?“, rief Frank, während Yüksel mit seinem typischen breiten Lachen den Kopf schüttelte. Wir liefen zu ihnen – völlig fertig, aber auch erleichtert. Ohne viele Worte zu wechseln, wussten wir alle, dass wir es geschafft hatten. Wir kratzten unsere letzten Pfennige zusammen und holten uns jeder ein „Lifty“ aus Poschkes Eistruhe. Dieses einfache Stangeneis, süß, klebrig und voller Sommer, wie es nur die Siebziger konnten.

 

Der alte Poschke selbst stand hinter der Theke, sah uns prüfend an und schob die Mütze etwas nach hinten. „Na, habt ihr wieder was ausgefressen?“, fragte er. Wir grinsten nur, keiner sagte etwas. Er grinste zurück, schüttelte den Kopf und brummte: „Lausbuben.“

 

Wir saßen auf der Bordsteinkante vor der Trinkhalle, hatten überall Schrammen und schmutzige Hände. Das Lifty schmeckte. Keiner sprach über das, was gerade passiert war – es musste auch niemand darüber sprechen. In unseren Gesichtern stand alles geschrieben: Angst, Stolz, Erleichterung. Und irgendwo in der Ferne war wieder die dumpfe Geräuschkulisse der Zeche zu hören.

 

Heute existieren weder die Zeche noch die alten Schienen, und auch die Brücke ist verschwunden. Die Zeche Hugo wurde im Jahr 2000 stillgelegt. Wo einst die Gleisanlage war, kann man heute mit dem Fahrrad bis zum alten Förderturm von Schacht 2 fahren, der vom Abriss verschont blieb. Er ist ein Denkmal vergangener Zeit und ein Wahrzeichen meiner Kindheit.

 

Glück auf!

 

Ivano Fargnoli ( 2025 )